Rente mit 68! Ein Alte-Männer-Gremium warnt vor alten Menschen …

Wir leben in merkwürdigen Zeiten. Hochgelobte Wissenschaftler fordern, dass heute junge Menschen viel länger arbeiten sollen, bevor sie Rente bekommen und warnen, dass heute alte Menschen das zu verhindern drohen.

Die Forderung und Mahnung kommen vom Wissenschaftlichen Beirat beim Wirtschaftsministerium. Der legte Anfang Mai „Vorschläge für eine Reform der gesetzlichen Rentenversicherung“ vor. Darin enthalten die zentralen Forderungen:

  • Das Renteneintrittsalter solle bis 2042 auf 68 Jahre erhöht werden. Grundsätzlich sollen zukünftig Lebenszeitverlängerungen zu 2/3 in Lebensarbeitszeitverlängerung und zu 1/3 in Rentenzeitverlängerung berechnet werden. (1)
  • Zukünftig sollen die Rentenerhöhungen nicht mehr an die Lohnentwicklung, sondern an die Preissteigerungen gekoppelt werden. (2)
  • Zukünftig sollen ab einer bestimmten erreichten Entgeltpunktezahl die weiteren Erhöhungen nur noch reduziert erfolgen. (3)

Dann mahnt das Gremium zur Eile:

„Da der demographische Wandel dazu führt, dass sich mehrheitsfähige Reformen auf eine Lösung zubewegen, die das Gewicht ausschließlich auf die Interessen der Älteren legt, wird es immer schwieriger, Generationengerechtigkeit und Mehrheitsfähigkeit gleichzeitig zu erreichen. Ein zügiges Angehen von Reformen ist demnach ein Beitrag zur Generationengerechtigkeit.“

Das sind klare Worte an die Politik: verschlechtert die gesetzliche Altersversorgung jetzt, bevor die Alten die Macht im Staate übernehmen und ihre egoistischen Interessen durchsetzen. Diese Warnung ist in zweifacher Hinsicht bemerkenswert:

  • Erstens: Warnt ein Gremium, das von alten Männern dominiert ist, vor dem Egoismus alter Menschen. 15 von 31 der männlichen Mitglieder befindet sich im hoch- bis höchstbezahlten Ruhestand (4).
  • Zweitens: Unterstellt das Gremium, dass junge Menschen ein Eigeninteresse an einem Renteneintrittsalter von 68 und mehr Jahre haben, dass sie unbedingt eine niedrigere gesetzliche Rente für sich wollen und dass sie von der Majorität der älteren Wähler*innen davon abgehalten werden könnten.

In Wirklichkeit mahnen die Herrschaften zur Eile, weil die Hirnrissigkeit dieser Argumente nicht mehr lange verborgen bleiben kann. Diese Art von Generationengerechtigkeit ist purer Generationenbetrug. Dass Politiker, die immer für das Heraufsetzen des Renteneintrittsalters waren, sich jetzt vor der Bundestagswahl von der Rente mit 68 distanzieren, spricht Bände.

Bezeichnenderweise distanzierte sich auch Wirtschaftsminister Peter Altmeier, der dem Beirat den Auftrag für das Gutachten erteilte. Die Distanzierung von seinem Beirat verband Altmeier mit einem Dank an Franz Müntefering, der 2006 für die Rente mit 67 sorgte.

Eine kleine Erinnerungshilfe:  Zur Bundestagswahl 2005 verlangte kein Parteiprogramm und kein Politiker die Heraufsetzung des Renteneintrittsalters. Dann kam die Wahl, die Koalitionsverhandlungen und im Rekordtempo stand im Regierungsprogramm die Rente mit 67 ab dem Jahr 2035. Es war dann die unsägliche Tat Münteferings, dieses Ziel um fünf Jahre auf 2030 vorzuziehen.

Der Unterschied zu 2005 ist, dass es in den letzten Monaten zahlreiche Forderungen nach Heraufsetzung des Renteneintrittsalters gegeben hat. Das Angebot für die Politik ist groß 68, 69, 70 Jahre, ja sogar 75 Jahre wurden schon einmal „durchgerechnet“. Bis vor kurzem wurden diese „Experten“-Empfehlungen von Politikern der CDU (auch von Armin Laschet) und der FDP begrüßt. Die Haltbarkeit der Politiker-Distanzierungen wird voraussichtlich nach der Wahl im September abgelaufen sein.

Resümee: Gibt es nach der Bundestagswahl keine irgendwie geartete linke Mehrheit und/oder eine starke soziale Widerstandsbewegung (wie in Frankreich oder Spanien) wird es zu längeren Lebensarbeitszeiten kommen. Und damit sind die Gegenreformer noch lange nicht am Ende (5).

Anmerkungen:

(1) Konkreter Vorschlag des Beirats: Für jedes Jahr durchschnittlicher Lebenszeitverlängerung soll in Zukunft 8 Monate länger gearbeitet und 4 Monate länger Rente bezogen werden. Hätten die Rentenreformer 1957 den gleichen Lichtblick gehabt, läge das Renteneintrittsalter heute bei 74 ½ Jahren. Nach destatis lag das durchschnittliche Sterbealter 1959 bei 65 Jahren, 2019 waren es dann 79 Jahre.

(2) Die Rentenformel mit den Dämpfungsfaktoren bleibt nach dem Vorschlag erhalten. Bei Bestandsrentnern wird an Stelle des Lohnfaktors aber die Preissteigerung gesetzt. Die Absenkung des Rentenniveaus wird damit noch einmal enorm gesteigert, weil die Rentner*innen damit an Reallohn-Steigerungen keinen Anteil mehr haben.

(3) Erhalten Rentner*innen zur Zeit noch für jeden Renten-Entgeltpunkt den aktuellen Rentenwert (aktuell West: 34,19 Euro) berechnet, sollen nach Beiratsempfehlungen ab einer bestimmten Anzahl von Entgeltpunkten (haben sie nicht genauer beziffert) der aktuelle Rentenwert abgeschmolzen werden. Das bedeutet für diese Rentner*innen dann ein dreifach abgesenktes Rentenniveau.

(4) Der Beirat besteht aus 36 Mitgliedern, 31 Männer und 5 Frauen. Unter den 15 männlichen Ruheständlern befinden sich so illustre Vertreter des Neoliberalismus  wie Hans-Werner Sinn (ifo), Wolfgang Franz (ZEW) und Ottmar Issing (EZB). Axel Börsch-Supan war „federführend“ bei der Erstellung des Gutachtens.

(5) „Der Elefant im Raum“  wird an keiner Stelle des Gutachtens erwähnt. Es geht offensichtlich darum, den Druck, private Vorsorge bei Versicherungen oder Kapitalsammelstellen (a´la Black Rock oder ALLIANZ) machen zu müssen, enorm zu steigern.

(Reiner Heyse, 16.06.2021)