Das war eine umwerfende Nachricht. Mein Kollege Wolfgang sagte, er sei froh, noch nicht zu Abend gegessen zu haben. Das gute Essen hätte sich sonst vor seinem Bildschirm wiedergefunden. Was seinen Brechreiz auslöste war die folgende Meldung bei ntv:
„So geht es den deutschen Rentnern wirklich … Besonders gut stehen sich im Schnitt die verheirateten Rentner. Sie bekamen 2023 … ein durchschnittliches „Haushaltsnettoeinkommen“ von 3.759 Euro im Monat.“ (Alleinstehende Männer: 2.213€; alleinstehende Frauen: 1.858€)
Und Redaktionschef Nikolas Blome kommentierte empört:
„Die Bundesregierung beschweigt ihren eigenen Vier-Jahres-Bericht, … wie hoch die Einkommen der Rentner wirklich sind. Dabei ist das durchaus eine Erfolgsmeldung. Bundeskanzler Scholz zeichnet dagegen lieber dunkle Zukunftsszenarien.“ (ntv am 15.11.24; t-online folgte am 17.11. mit ähnlichen „Enthüllungen“)
Die Zahlen im Alterssicherungsbericht der Bundesregierung stehen im krassen Gegensatz zu denen der Deutschen Rentenversicherung (DRV). Demnach betrug der durchschnittliche Rentenzahlbetrag (vor Steuern) bei Männern 1.315 Euro und bei Frauen 914 Euro. Und diese Zahlen entsprechen eher den Erfahrungen von Abermillionen Rentnerinnen und Rentnern.
Wie erklären sich diese Riesenunterschiede?
„Der Durchschnitt ist das Leichentuch der Statistik“ (1)
Die Bundesregierung engagierte das infas-Institut, um die Einkommenssituation von Haushalten, in denen mindestens eine Person älter als 65 Jahre ist, zu erfragen. Das macht sie alle vier Jahre. Die Ergebnisse der einzelnen Einkommensarten (Renten; Pensionen; Betriebsrenten; Zinseinkünfte; Mieteinnahmen; Arbeitseinkommen; …) und der Personengruppen (Arbeiter/Angestellte; Beamte; Selbständige; Freiberufler), werden alle in drei Töpfe geworfen (Paare; Einzelhaushalte Männer bzw. Frauen) und dort kräftig umgerührt.
Die gequirlten Inhalte der Töpfe werden durch die Anzahl der Befragten geteilt und voila, hier ist es: das durchschnittliche Einkommen der Altenhaushalte in Deutschland.
Zur Krönung des Ganzen erklären Journalisten alle Haushalte in denen Menschen über 65 leben, zu Rentnerhaushalten – das ist auch eine Art Gleichmacherei – und fertig ist die Überschrift:
„So geht es den deutschen Rentnern wirklich“.
Das ist nichts anderes als „Lügen mit Zahlen“ (2). Der Durchschnitt sagt zu konkreten Einkommens- bzw. Lebensbedingungen gar nichts aus. Beamte bekommen Pensionen, die etwa dreimal so hoch sind wie die gesetzlichen Renten. Bei Selbständigen/Freiberuflern, die häufig noch weit über das 65. Lebensjahr hinaus arbeiten, ist es etwa das Vierfache. Betriebsrenten bekommen lediglich 50% der Rentnerinnen und Rentner. All das und noch viel mehr kann man aus dem Alterssicherungsbericht herauslesen (3). Die Aussagekraft ist immer sehr begrenzt, weil es immer um Durchschnitte geht.
Wer wirklich wissen will, wie es „den Rentnern in Deutschland wirklich geht“, hat zumindest hier zwei Quellen mit harten Daten:
Der Paritätische Gesamtverband ermittelt auf Basis der Microzensuserhebungen von destatis den Anteil der Rentner, die unter armen Verhältnissen leben. Es waren im letzten Jahr 20%. Also ist jeder fünfte Rentnerhaushalt von Altersarmut betroffen – nahezu 4 Millionen Menschen. Als Armutsgefährdet gilt, wer weniger als 1.320 Euro Nettoeinkommen erzielt (Paare 1.980 Euro).
Ebenfalls von destatis wird ermittelt, wie viele Personen Grundsicherung im Alter beziehen. Das waren im März diesen Jahres 719.330 Menschen. Wissenschaftler hatten erforscht, dass 60% der eigentlich Berechtigten keine Anträge auf Grundsicherung stellen würden. Gründe dafür: Stolz, Scham, Nichtunterwerfung unter ein kleinliches Kontrollregime, … Grundsicherung, also Sozialhilfe, die noch unter der Armutsschwelle liegt, soll verhindern, dass Menschen hungern und obdachlos sind.
Zu diesen Verhältnissen passen die erwähnten Überschriften. Da fällt mir Berthold Brecht ein:
„Doch man sieht nur die im Lichte
Die im Dunkeln sieht man nicht“
Bezüglich der zitierten Journalisten muss man wohl ergänzen: „Die im Dunkeln will man nicht sehen“.
Anmerkungen:
(1) Der Ausspruch wird dem früheren Vorstand der Bundesagentur für Arbeit, Heinrich Alt, zugeschrieben. Wie wenig Aussagekräftig der „Durchschnitt“ sein kann, macht folgende Rechnung deutlich: Unter 10 Leuten hat eine Person 1 Million Euro Vermögen, die anderen neun jeweils ein Euro. Als Durchschnitt gerechnet hat jede Person ein Vermögen von 100.001 Euro.
(2) „Lügen mit Zahlen“ ist der Titel eines lesenswerten Buches von Gerd Bosbach und Jens Jürgen Korff.
(3) Der Alterssicherungsbericht 2024, ist ziemlich detailliert, lässt sich aber nicht nutzen für reißerische Artikel. Interessant wäre auch zu ergründen, warum das Nettoeinkommen von Paaren seit 2019 um 29% angestiegen ist, obwohl die Renten nur um 12,3 % erhöht wurden, bei Preissteigerungen um 17,3%.
Zu Anmerkung (1): Man sollte deutlich darauf hinweisen, dass es einen Riesenunterschied macht, ob man einen Durchnittswert oder einen Mittelwert hernimmt; letzterer wird auch Median genannt und bezeichnet den Wert, der zwischen der oberen Hälfte der Werte und der unteren Hälfte liegt. Im Beispiel von Anmerkung (1) beträgt der Median 1 Euro. Der Median hat also eine viel größere Aussagekraft als der Durchschnitt.
Der Nebenzweck solch kunstvoll hoch gerechneter „Renten“ ist die Basis auf der die für Ukrainekrieg und NATO Rüstungswahnsinn fälligen Finanzierung durch Renten- und Sozialkürzungen. Wer also bei der Bundestagswahl die CDU/CSU, SPD, Grüne der FDP wählt, kriegt dieses Programm genau so geliefert!
Nehmt Euch mal die neue Broschüre „Rentenversicherung in Zeitreihen Ausgabe 10/2024“ vor. Steht zum Download auf der Internetseite der DRV-Bund bzw. meiner Internetplattform http://www.meine-rente.jimdofree.com
Dort empfehle ich die Unterseite Rente 2025 und Rentenniveau..
Danke für Eure Richtigstellungen.
Rotzfrech, wie diese Banditen mit Statistiken hantieren.
Und leider gilt das auch für die anderen Lebensbereiche.
Das wird sich auch erst mit der Beseitigung des Kapitalismus ändern lassen.
Barbarei oder Sozialismus gilt heute mehr denn je.