In Sachen Pflege: Von Deutschland lernen, heißt siechen lernen!

Was vordergründig an die mundartlich DDR-sächsische Einschätzung sowjetischer Überlegenheit erinnert, könnte man in ernstem Hochdeutsch derzeit in Österreich für bare Münze nehmen. Nachdem sich österreichische Sozialpolitiker angesichts deutscher Sozial-, insbesondere Rentenpolitik vor einem Jahrzehnt noch ungläubig die Augen rieben, dürfte es ihnen in Sachen Pflege nunmehr ganz die Sprache verschlagen. Diese reiche, wertebestimmte, unbeirrt demokratische sowie international  Vorbild und Führung beanspruchende deutsche Nation lässt ihre Alten und Schwachen elend im Stich. 

Naja, vielleicht etwas übertrieben – darf dieser Teil der Gesellschaft doch mit einer gewissen Vorfreude auf die jährliche Anpassung der Rente am Zahltag 31. Juli hoffen – wenn sie denn eintritt und nicht durch Nachhaltigkeits- oder virale Störfaktoren geschmälert wird. Moralisch dem Stockholm-Syndrom ausgeliefert, beugen sich die vielfach ohnehin von „harter Arbeit“ (Achtung Politikerjargon!) gekrümmten Rücken dem von höchsten Regierungskreisen propagierten Anstandsgebot, die Arbeitnehmer von heute nicht mit ihrer senilen Auffassung von Hedonismus zu belasten. Immer mehr Alte und damit auch Pflegebedürftige sollten gefälligst selbstkritischer sein. 

An dem Versuch, der überbordenden Herrschaft der Alten Einhalt zu gebieten, ist übrigens kein Geringerer als Ex-Bundespräsident Roman Herzog schon 2008 kläglich gescheitert: „Die Älteren könnten die Jüngeren ausplündern.“ Als oberster Plünderer der Steuerkasse mit einer Ehrenpension von 100 Prozent seines Präsidentensoldes wusste er wohl wovon er sprach. Franziska Giffey versuchte als Familienministerin einen anderen Weg: Senkung des Wahlalters auf 16 Jahre, eben mit Hilfe neuer jugendlicher Wähler die Dominanz der Alten brechen. Hans Werner Sinns Ansinnen – damals war er Präsident des ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung – die Rentenformel mit einer Kinderkomponente zu bereichern, war am Ende auch sinnlos.

Die Politiker sehen sich also nach wie vor dem Wohlwollen der sehr großen Wählerschaft der Alten und Schwachen ausgeliefert. Mit gewissen Zugeständnissen bei der Einführung einer Mindest- bzw. Grundrente erhoffte man sich wohl einen Anflug von Altersmilde bei den Betroffenen. Denn eine Umwälzung der Altersvorsorge, womöglich nach österreichischem Vorbild, wird von der breiten Bevölkerung gewünscht, bleibt für unsere Politik absolut undenkbar, sieht man von Linksaußen ab. Mehr als merkwürdig, denn das BIP, die Wertschöpfung pro Kopf und die Demografie in Österreich sind in weiten Teilen der deutschen Ausgangslage nahezu gleich.

Während in den vergangenen zwei Jahrzehnten die österreichische Sozialpolitik zunehmend von Empathie für Rentner und Pflegebedürftige einschließlich ihrer Pflegenden geprägt ist, scheint sich in Deutschland das Gegenteil unter den Verantwortlichen zu etablieren. Wie anders ist es zu erklären, dass z. B. im österreichischen Burgenland diejenigen, die sich der Pflege von Angehörigen widmen, eine zufriedenstellende Entlohnung erzielen. Und nicht nur das. Mit ihrer Anstellung bei den Kommunen sind sie renten-, kranken-, pflege- und arbeitslosigkeitsversichert. Möglichkeiten der Weiterbildung und der Kommunikation mit anderen Pflegenden schützt sie zudem vor sozialer Isolation. Das Risiko, in die Armutsfalle zu tappen, droht ihnen sehr viel weniger als in Deutschland. Beide Seiten, Pflegebedürftige und Pflegende, haben die Chance auf eine würdige Lebensführung. Deutsche Jung-Politiker mögen sich fragen, was in Österreich falsch gelaufen ist. Alte Hasen wissen schon, dass dies auch in Deutschland gilt – allerdings nur für Beamte, Richter und Soldaten. Ihnen wird auch im Falle der Pflegebedürftigkeit eine „amtsangemessene Lebensführung“ garantiert. Man ist geneigt auszurufen: „Seht her, es geht doch!“ 

Diese Zusicherung schließt die nächsten Angehörigen in der Familie ein. Im Falle einer Unterdeckung der Aufwendungen für den Pflegebedürftigen greift die grundgesetzlich festgeschriebene Alimentierungsverpflichtung durch den Dienstherrn – und damit wir, die Steuerzahler – , zuzüglich ergänzender Beihilfe. Ihre Angehörigen geraten dadurch meist nicht in Verlegenheit, sich psychisch und finanziell aufopfernd der Nächstenpflege widmen zu müssen. Kostentreibende Pflegedienstleistungen, z. B. so genannte Live-ins als Rund-um-die-Uhr-Betreuung, verlieren vor allem unter dem Aspekt höchstrichterlich angemahnter arbeitsrechtlicher Standards ihre abschreckende Wirkung. Den Beamten ist es wohl gegönnt, stehen sie auch sonst seit ihrer Vereidigung rund um die Uhr mit Hingabe (Originalkommentar zum Beamtenrecht!) ihrem Dienstherrn zur Verfügung. In einem solchen, erotisch anmutenden (Dienst-)Verhältnis wäscht eben eine Hand liebevoll die andere, auch wenn es zuletzt die Pflegekraft tut. Der meist slawische Akzent der Pflegeengel begleitet dieses innige Verhältnis wie Musik. 

Während vereidigte Bürger auf ihren schnöden, weltlichen Gütern sitzen bleiben, weil der Dienstherr ihnen die Abnahme von Vermögen „verweigert“, dürfen sich die Nicht -vereidigten über die Teilhabe am Gotteslohn erfreuen, demütig dem Gebot folgend „Geben ist seliger denn Nehmen“. Hier mutiert Nächstenpflege in Vollendung zur Nächstenliebe. Wem stünde sie besser ins Gesicht geschrieben als jenen Mitmenschen, denen die liebevolle Umsorgung ihrer Nächsten in die Wiege gelegt wurde, nämlich der hingebungsvollen, pflegenden Weiblichkeit – so glaubt zumindest der chauvinistische Teil unserer Gesellschaft und das sind nicht Wenige. Stellen sie doch mehr als 70 Prozent der Pflegenden, deren Dienste mit steigender Tendenz in 80 Prozent der Fälle zuhause erbracht werden. Dies steht ganz im Gegensatz zur Fokussierung vieler Medien auf die stationäre Pflege, die in der Diskussion um den Mindestlohn ein spektakuläreres Objekt des journalistischen Interesses bieten.

Aber, es gibt doch für alle(!) Bürger das Angehörigenentlastungsgesetz von 2020. Bedeutet es doch eine enorme Entlastung der vorher zur Teilfinanzierung der Pflege verpflichteten Angehörigen. Erst wenn das jährliche Einkommen von 100.000 Euro die Armutsgrenze überschreitet, stehen sie wieder in der Pflicht. Allerdings begünstigt – mutmaßlich versehentlich – das Gesetz vereidigte Bürger sehr hoher Besoldungsstufen insofern, als ihnen bei Überschreitung dieser Grenze mehr Netto vom Brutto  gegenüber Angestellten und ganz besonders von Freiberuflern verbleibt. Schlichter Grund: Letztgenannte haben höhere Sozialausgaben zu stemmen. Aber kein Grund zu Groll oder Neid. All die Privilegien sind historisch gewachsen – so die auch für das schlichteste Gemüt leicht nachvollziehbare Begründung seitens der Politiker.

Und Deutschland wäre nicht Deutschland, wenn sich um die Pflege nicht ein Monstrum bürokratischer Wenn und Aber ranken würde. Viele Anspruchsberechtigte verzichten dadurch auf Zusatzleistungen in Milliardenhöhe – was irgendwie irritiert. Denn der Name des zuständigen Ministers verspricht eigentlich weniger Un-Heil.

Als Fazit bleibt: Alle bisherigen Verbesserungen zugunsten von Pflegebedürftigen und Pflegenden bleiben Stückwerk. Sie verzögern zwar den Absturz in die Armut, aber für mehr als 20 Prozent der Pflegenden bleibt ein gravierendes Armutsrisiko bestehen.

Die häusliche Pflege ist unbestreitbar die tragende Säule eines funktionierenden Pflegesystems, dessen Preis für die Pflegenden die Grenze der Zumutbarkeit erreicht, wenn nicht schon überstiegen hat. Ihr Fortfall würde schlicht in eine soziale Katastrophe für Pflegebedürftige führen. 

Auswege können nur sein:

Eine Entgeltersatzleistung nach Art des Elterngeldes, die aber wegen ihrer Orientierung am letzten Lohn nicht dem Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ entspräche.

Oder:

Besser eine sozialversicherungspflichtige Entlohnung nach österreichisch-burgenländischem Modell mit Vorteilen für alle Beteiligten.

Woran aber liegt, dass in Österreich funktioniert, was in Deutschland nicht einmal versucht wird? Am Geld? Am Mut zur Umverteilung? Oder schlicht an der hohen sozialen Kompetenz der alpenländischen Entscheider? Ganz ohne Anleihe im Sächsischen kann man in Sachen gerechte Rente und Pflege einfach feststellen „Von Österreich lernen, heißt siegen lernen.“

2 Kommentare

  1. Pingback: JFI 43-2022 ++ Aufstand im Iran ++ Cuba: Krasser Gegensatz zum Impfstoffimperialismus ++ Deutschlands Interessen in Europa und der Ukraine-Krieg ++ Mondragón: Arbeitermacht im Baskenland ++ – Jour Fixe – Gewerkschaftlinke Hamburg

  2. Und warum ändert sich nichts?
    Wenn man die letzten Wahlergebnisse sieht wird sich so schnell nichts ändern.
    Ich lese gerade das Buch „Dumm, dümmer, deutsch“ von Christian Wolf, dem ist nichts hinzuzufügen.
    Hier hilft nur eine Revolution.
    Die Auswirkungen werden wir bald spüren, wenn sich die Katastrophe nicht schon ihren Weg sucht, siehe Energiekrise.

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